20.11.2023
Die drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines erst nach der Ausreise aus dem Verfolgerstaat geborenen Kindes, dem in Deutschland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Asylgesetz (AsylG). Das gilt auch dann, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft der Eltern oder auch die gesamte Familie mit Ausnahme des Stammberechtigten bereits im Verfolgerstaat bestanden hat, wie das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden hat.
Die Kläger (Eltern und zwei Söhne) sind somalische Staatsangehörige und 2012 nach Deutschland eingereist. Ihre Asylanträge wurden unanfechtbar abgelehnt. Nachdem einer 2013 in Deutschland geborenen Tochter beziehungsweise Schwester der Kläger die Flüchtlingseigenschaft wegen drohender Genitalverstümmelung zuerkannt worden war, stellten sie Folgeanträge. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte die Anträge als unzulässig ab, weil keine Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vorlägen. Die Anerkennung der Tochter beziehungsweise Schwester begründe für die Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft als Familienangehörige nach § 26 Absatz 3 in Verbindung mit Absatz 5 AsylG, weil die Familie nicht schon im Verfolgerstaat bestanden habe. Klage und Berufung haben keinen Erfolg gehabt.
Das Oberverwaltungsgericht war ebenfalls der Auffassung, die Kläger könnten von der in Deutschland geborenen Tochter keinen Familienflüchtlingsschutz ableiten, weil dem § 26 Absatz 3 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit Absatz 3 Satz 2 und Absatz 5 AsylG entgegenstehe. Danach setze die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als Familienangehörige bei Eltern und Geschwistern voraus, dass die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchst. j RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Dies könne nur der Fall sein, wenn das stammberechtigte Kind bereits im Verfolgerstaat geboren sei. Es reiche nicht aus, dass das Kind in Deutschland in eine Familie hineingeboren werde, die bereits im Verfolgerstaat bestanden habe.
Das BVerwG hat die Revision der Kläger zurückgewiesen. Die Asylfolgeanträge seien zu Recht als unzulässig abgelehnt worden, weil sich die Sach- oder Rechtslage nicht zugunsten der Kläger geändert hat. Die Anerkennung der in Deutschland geborenen Tochter als Flüchtling begründe für ihre Eltern und Geschwister keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil die Familie nicht schon im Herkunfts- beziehungsweise Verfolgerstaat bestanden hat.
Diese Voraussetzung ergebe sich nicht nur aus § 26 Absatz 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG. Auch die unionsrechtliche Regelung über die Wahrung des Familienverbands in Artikel 2 Buchst. j in Verbindung mit Artikel 23 Absatz 2 RL 2011/95/EU, die der deutsche Gesetzgeber mit § 26 AsylG (überschießend) umgesetzt hat und auf die er darin ausdrücklich verweist, beziehe Familienangehörige nur insoweit ein, als die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden hat. Der dort jeweils verwendete Familienbegriff beziehe sich nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der Regelung gerade auf das familiäre Verhältnis zwischen dem Stammberechtigten und dem Familienangehörigen, der den abgeleiteten Schutzstatus beziehungsweise die Wahrung des Familienverbands begehrt.
Danach scheide ein Familienschutz für Eltern und Geschwister von vornherein aus, wenn das stammberechtigte Kind erst in Deutschland geboren wurde. Dem steht laut BVerwG auch nicht entgegen, dass minderjährige Kinder eines Schutzberechtigten den abgeleiteten Schutz erhalten können, wenn die familiäre Beziehung erst in Deutschland entstanden ist, weil § 26 Absatz 2 AsylG insoweit nicht verlangt, dass die Familie bereits im Verfolgerstaat bestanden haben muss. Hierbei handele es sich um eine über die Vorgaben des Unionsrechts hinausgehende bewusste Privilegierung, für die hinreichende sachliche Gründe bestehen.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15.11.2023, BVerwG 1 C 7.22